Leo: Der kalte Sommer ( „Jahr ohne Sommer“ ) des Jahres 1816, mehr als 200 Jahre her, war Geburtsstunde von zwei Literaturgattungen, deren Anziehungskraft bis heute anhält.
Vor wenigen Wochen stöberte ich bei meinen regelmäßigen, bibliophilen Besuchen in meinen bevorzugten Buchhandlungen der Stadt zwei neue Buchausgaben auf:
„FANTASMAGORIANA
Geisterbarbiere, Totenbräute und mordende Porträts„, herausgegeben von Markus Bernauer, erschienen bei Rippberger & Kremers:

Aus dem Klappentext:
„Fantasmagoriana“ – so hieß eine französische Sammlung deutscher Schauergeschichten, die meisten dem romantischen >>Gespensterbuch<< entnommen. Diese Sammlung regte 1816 am Genfer See Mary Shelley zu „Frankenstein“ und Lord Byron und seinen Freund John Polidori zu den ersten Vampir-Erzählungen an. Die Nacht der gemeinsamen Lektüre von „Fantasmagoriana“ durch die jungen Briten im Jahr ohne Sommer inspirierte fast 200 Jahre später Ken Russell zu den phantastisch-surrealistischen Bildern seines Kultfilmes >>Gothic<<. Die herausragende Sammlung erscheint hier erstmals mit den deutschen Originalen.
und
„Der Vampir“ von J. W. Polidori / Lord Byron, herausgegeben von Reinhard Kaiser, erschienen im C.H.. Beck Verlag textura:

auch hier der Klappentext:
Im kalten Sommer des Jahres 1816 mit seinen endlosen Regenfällen und schauderhaften Gewittern betraten gleich zwei >>Gespenster<< die Bühne der Literatur, die aus den Medien mittlerweile nicht mehr wegzudenken sind: der künstliche Mensch des Dr. Frankenstein und der blutsaugende Vampir. Letzterer ist Protagonist zweier Erzählungen von Lord Byron und seinem Leibarzt John Polidori, die hier erstmals, neu übersetzt von Reinhard Kaiser, auf Deutsch in einem Band vereint sind.
Hervorgegangen sind die beiden Stücke aus einem Wettbewerb im Gespenstergeschichten Schreiben, den Byron initiiert hatte. Während dessen eigene Erzählung aber Fragment geblieben ist, wurde „Der Vampir“ von Polidori von einem geschäftstüchtigen Verleger später unter Byrons Namen veröffentlicht und schuf so den modernen Mythos des literarischen Vampirs, der keineswegs nur ein Gewalttäter, sondern auch ein Edelmann und Verführer ist. Auch Goethe hat sich täuschen lassen. Er las Polidoris Erzählung und nannte sie >>Byrons bestes Produkt<<
John William Polidori (1795-1821) begleitete den britischen Dichter Lord Byron (1788-1824) im Sommer des Jahres 1816 als Leibarzt an den Genfer See, wo die beiden auf Percy und Mary Shelley, die spätere Autorin des Frankenstein, trafen und sich mit einem folgenreichen Wettbewerb im Gespenstergeschichten Schreiben die Zeit vertrieben.
Mary Shelley also, gewann vor 200 Jahren diesen Schreibwettbewerb mit ihrem Frankenstein:

Dieser Roman gilt als Auslöser für die bis heute anhaltende Welle an phantastischer Literatur und als „Geburtshelfer“ der nachfolgenden Myriaden an technologischen Geschichten, die erst im 20. Jahrhundert den Genre-Namen „Science Fiction“ erhalten sollten. Frankenstein, der Prototyp des künstlichen Menschen, an dem in unseren Tagen so vehement hard- und softwaremäßig gearbeitet wird.
Und plötzlich taucht Mary Shelley für mich in diesen Tagen erneut auf :
Bei meinen Surfgängen durch die Netzwelt stoße ich auf die Seite Shelley.Ai.
Rechtzeitig zu dem bevorstehenden Halloween wird dort ein KI-Algorithmus vorgestellt, der beim Schreiben von Gespenstergeschichten hilft!
Bei einem meiner letzten Blog-Beiträge habe ich von intelligenter Software (Stichwort „Bestseller Code“ und „Qualifiction“ ) berichtet, die Texte lesen kann, analysiert und einigermaßen zuverlässig Bestseller voraussagen kann.
Nun also die nächste Stufe: SCHREIBEN von Belletristik, Schreiben der beliebten Gespenstergeschichten.
Klugerweise führt das hochkarätige Entwicklerteam vom MIT Media Lab SHELLEY nicht als separat schreibende Konkurrenz zu den menschlichen Autoren ein, sondern als Schreibhelfer, der Inspiration für die eigene Phantasie bieten soll. So sollen also die Geschichten in Kooperation und im dauernden Wechselspiel zwischen Mensch und Algorithmus geschaffen werden. Pfiffig: Als automatisierte Schnittstelle wurde einfach die Plattform Twitter einbezogen. Hierüber kann im Wechselspiel die Geschichte erarbeitet werden. So werden im 21. Jahrhundert phantastische Erzählungen geschrieben! Die Autorenschaft haben bei dieser Literaturschaffung SHELLEY und eine wechselnde Menge an Menschenautoren (Twitterer) gemeinsam, denn jeder kann sich aufschalten und „mitschreiben“. Die Geschichten sind sofort öffentlich und werden bereits bei der Entstehung mitgelesen, ob auf Twitter oder auf der SHELLEY-Seite. Auch Lob und Kritik kann sofort über Twitter die Geschichten beeinflussen.
Erst seit dem 23. Oktober ist SHELLEY auf Twitter „aufgetreten“. Beeindruckend wieviel Geschichten bereits am Laufen sind.
Die Fortschritte der KI auf dem geisteswissenschaftlichen Sektor sind immens. In Sachen Literatur startete sie zunächst als Leser und Kritiker, und nun also als kreativer Schreiber. Wir erleben hier hautnah die Entstehung einer neuartigen Literaturgattung, geschaffen von kooperierenden Autorengruppen zusammen mit einem intelligenten Programm. SHELLEY hat mit Sicherheit alles Wesentliche des Genres „gelesen“, „kennt“ erfolgreichen Stil und Form und „weiß“, wie man die Leser zum Schaudern bringt. Und bei der laufenden „Zusammenarbeit“ mit den Menschen wird es weiter lernen und seine Kenntnisse verfeinern.
Irgendwann wird es anfangen, die Geschichten alleine zu schreiben.
Ich bin selbst sehr überrascht über die Geschwindigkeit und Wucht der Entwicklungen, trotzdem ich sie ja stets auf diesem Blog angekündigt habe.
Leonardo
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